Mit Eichhörnchen gegen “Biber-Transporte” – 1 Jahr nach Castor-Protest in Bad Wimpfen: Ordnungswidrigkeits-Verfahren noch nicht abgeschlossen


Tag der Ordnungswidrigkeit 28.06.2017:
Ignorieren von Polizei-Anweisungen, die Aktion abzubrechen beim Abseilen mit Riesentransparent gegen den Castor-Transport von radioaktiven Brennelementen vom Kernkraftwerk Obrigheim zum Gemeinschafts-Kernkraftwerk Neckarwestheim an der Neckarbrücke in Bad Wimpfen.

Erster Verhandlungstag: Das Datum 26.4.2018 scheint brisant. Immerhin der 32. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Zwei Atomkraftgegnerinnen im Rentenalter (denen das Datum 26.4. nichts sagte!) waren anwesend sowie etwa ein Dutzend junge Leute. Davon gehörten vermutlich jeweils ca. die Hälfte zur „Lüneburger Gruppe“ und der Rest zur „Freiburger Gruppe“.
CL1 KopieCécile Lecomte
Unter den Zuschauerinnen war auch die französische Kletter-Aktivistin Cécile Lecomte (36), in der Szene bekannt als „l’écureuille“, das Eichhörnchen, die in Deutschland studiert und in Lüneburg in einer Wagenburg wohnt. Man sieht ihr die 36 Jahre nicht an. Allerdings geht sie an Krücken. Offenbar hat das Extrem-Klettern ihren Gelenken zugesetzt. Sie habe rheumatische Entzündungen und Arthrose. Sie erzählt mir die Geschichte, wie sie bei Castor-Tranporten gedacht habe „Warum transportieren die Biber? (castor ist das französische Wort für das Tier Biber)“. Das hat sie auch schon in anderen Interviews so gesagt.
Auf meine Frage, ob sie Aktionen in Deutschland, statt in Russland oder Japan durchführt, weil man hier mit weniger Widerstand vonseiten der Behörden rechnet, antwortet sie ausweichend.
Sie sei schon früher in Frankreich gegen Atomkraft und für Umweltschutz gewesen. Sie lässt durchblicken, dass die Aktivisten-Szene bestens vernetzt ist. Es sei vorteilhaft, französische Muttersprachler in Deutschland zu haben und umgekehrt. Wenn ein Schiff mit Fracht für Atomkraftwerke den Hamburger Hafen verlässt, erfahren das die französischen Freunde quasi in Echtzeit. Schnell wird klar, dass den Aktivisten der Atomausstieg der Merkel-Regierung nicht genügt. Sie wollen die Strukturen, die mit „dem Atom“ Geschäfte machen, schädigen.
Dass sie indirekt aber auch der gesamten Gesellschaft schaden könnten, daran scheinen sie keinen Gedanken zu verschwenden.
Bei Cécile Lecomtes Verhandlung wegen ihrer Ordnungswidrigkeitssache beim Castor-Transport hatte die Heilbronner Stimme über einen Eklat berichtet. https://www.stimme.de/heilbronn/hn/Eklat-am-Heilbronner-Gericht-Umweltaktivistin-bruellt-Richter-nieder;art31502,4011849
Der zuständige Richter am Landgericht Reißer eröffnet die Amtsgerichts-Verhandlung um 15.30 Uhr.
Auf der vom Zuschauer rechten Seite sitzen zwei Männer. Der Richter fragt, wer von ihnen der Angeklagte Kai-Sven Vogel sei. Der Angesprochene gibt sich zu erkennen, woraufhin der Richter fragt, wer die andere Person sei. Dieser Mann ist sehr massiv gebaut, trägt lange Haare, die am Hinterkopf zusammengesteckt sind und einen grünen „Robin Wood“-Pullover. Herr Vogel sagt, dies sei sein Wahlverteidiger. Worauf der Richter den anspricht, nach seinem Namen fragt und wodurch er sich qualifiziert fühle, diese Tätigkeit auszuüben. Der antwortet, sein Name sei Sven Schupp und er habe bei einem Rechtsanwalt ein Praktikum gemacht… Er gibt auf Nachfrage an, Kultur-Wissenschaften und Politikwissenschaften zu studieren.
Es folgt eine Befragung des Angeklagten bezüglich seines Personenstands und seines Berufs. Mühsam muss der Richter mehrmals nachfragen, ehe Herr Vogel, der zunächst angibt, erwerbslos zu sein, zuerst „Handwerk“ angibt und auf weitere Nachfrage „Elektriker“.
Der Angeklagte will sich zur Sache nicht äußern.
Der Wahlverteidiger behauptet nun, der Angeklagte habe in seinem Schweizer Wohnsitz die Ablehnung des gestellten Befangenheitsantrags gegen Richter Reißer nicht erhalten zu haben. Auch die Gerichtsakten seien ihm nicht zugestellt worden.
H. Schupp zieht seinen Pullover aus und hat darunter ein weites Kurzarm-T-Shirt an, unter dessen Ärmel er im Lauf der Verhandlung unbewusst mit der rechten Hand hindurchfahren wird, um sich unter der linken Achsel zu kratzen.
Der Richter erklärt, dass der Befangenheitsantrag beim Gericht per Fax eingegangen sei und eine Antwort auf diese Faxnummer nicht funktioniert habe. Er will daher wissen, um was für eine Faxnummer es sich handele. Die Antwort war, dass es sich um eine Faxnummer „der Post“ handele. Und dass darauf offenbar keine Antworten geschickt werden könnten.
Der Richter unterbricht die Verhandlung für eine halbe Stunde und händigt den beiden sein Exemplar der Gerichtsakte zum Studium aus.
Dem Beobachter drängt sich der Eindruck auf, dass hier der Rechtsstaat bis an die Schmerzgrenzen ausgereizt wird. („Fuck the System“.) Dabei kann man durchaus die Beharrlichkeit und Energie sowie das Engagement der Leute bewundern. Näheres zur Graswurzwel-Revolution auf http://www.graswurzel.net/
Sie haben sich einer Sache verschrieben und kämpfen mit allen Mitteln für eine „bessere“ Welt. Dass sie dabei oft anecken, ficht sie nicht an. Gerne wird der Polizei oder dem Gericht „Rechtsbeugung“ unterstellt. Auch eine generelle Neigung zu schablonenhaftem Denken und eine gewisse Resistenz gegenüber Gegenargumenten. Im Gespräch war Cécile Lecomte aber offen und hat sich Einwände angehört, dass der Ausbruch eines Supervulkans bei Neapel halb Europa auf Jahre hinaus verdunkeln könnte und damit die alternativen Energiequellen völlig ausbremsen könnte bei gleichzeitiger, brutaler Abkühlung. Auch, dass das plakative Argument, der Atommüll strahle 40.000 Generationen technische Fortschritte zur Behandlung oder gefahrlosen Beseitigung des Abfalls außer Acht lässt.
Nach der Unterbrechung stellt der „Verteidiger“ einen Befangenheitsantrag auch gegen die Richterin, welche den Befangenheitsantrag gegen Richter Reißer abgelehnt hat.
Die Verhandlung wird auf den 7. Mai, 12.00 Uhr vertagt.

Zweiter Verhandlungstag: 07.05.2018
Beim Eingang findet diesmal eine massive Taschenkontrolle statt. Die Rentnerin vor dem Berichterstatter muss alle Gegenstände aus ihrer Tasche herausholen. Der Berichterstatter kann dies umgehen und damit Zeit sparen, indem er seinen Rucksack komplett abgibt.
Die Freiburger Gruppe ist an diesem Tag nicht dabei, dafür aber wieder die zwei älteren Damen und ein weiterer, männlicher Beobachter um die 45 sowie ein Mann im Rentenalter, der in einer anderen Sache auf sein Verfahren wartet und sich solidarisch mit den Aktivisten erklärt. Die Kletteraktivistin Cécil Lecomte ist auch wieder da. Diesmal hat sie einen Rollstuhl mitgebracht.
Der Richter eröffnet dem Angeklagten und seinem Verteidiger, dass der Befangenheitsantrag gegen die andere Richterin von einem dritten Richter abgelehnt worden sei.
Es wird eine Zeugin vernommen. Sie ist bei dem Castortransport mit dem Polizei-Begleitschiff mitgefahren und arbeitete im Juni 2017 im Landratsamt Heilbronn im Dezernat 5 in der Abteilung Sicherheit und Ordnung, speziell Versammlungsrecht. Sie hat in der Zwischenzeit sowohl ihren Namen als auch ihren Familienstand geändert und ist auch nicht mehr in der damaligen Abteilung des Landratsamts tätig.
Richter Reißer weist sie auf ihre Pflichten als Zeugin hin und lässt sie ihre Beobachtungen schildern.
Sie tut das sehr ausführlich und ergänzt auch hier und da Mutmaßungen über die Gedankengänge der Aktivisten.
Als der Castor-Schubverband und das Polizeiboot an der Brücke in Bad Wimpfen angekommen seien, hätten sich vier Personen von der Brücke abgeseilt gehabt und ein Transparent gespannt. Die Lagebesprechung habe ergeben, dass der Transport nicht passieren könne.
Die Demonstranten in den Seilen seien per Polizeilautsprecher aufgefordert worden, ihre Aktion abzubrechen und am rechten Neckarufer weiter zu demonstrieren. Die Demonstration mit mehr als zwei Teilnehmern sei nicht angemeldet gewesen und es sei daher angemessen, ihnen zumindest einen anderen Kundgebungsort zuzuweisen. Der Aufforderung, die Aktion zu beenden seien sie nicht nachgekommen, worauf die Verhängung des Bußgelds von 100 Euro gegen den Angeklagten Vogel beruhe.
Der Verteidiger durfte noch selbst Fragen stellen: Ob sie den Angeklagten erkenne, welches der genaue Wortlaut der Aufforderung an die Demonstranten gewesen sei, wie das Wetter gewesen sei und ob über die Aktion am selben Abend in der Tagesschau berichtet worden sei.
Die Zeugin verweist auf Fotoaufnahmen und ist beim Wetter etwas unsicher und kann über die Tagesschau (verständlicherweise) nichts sagen.
Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit verfügt der Richter eine Vertagung auf den 29.05.2018, 15.30 Uhr. Der Verteidiger wirft ein, sein Mandant habe zu diesem Zeitpunkt eine lange geplante Urlaubsreise vor und er bitte darum, dass dieser von seiner persönlichen Erscheinungspflicht entbunden werde. Der Richter sagt, dass er darüber später entscheiden werde.

Dritter Verhandlungstag: 29.5.2018. Keine Taschenkontrollen diesmal. Geisterverhandlung bei drei Zuschauern und zwei Zeugen unter Abwesenheit des Angeklagten und seines Wahlverteidigers.
Inzwischen hatte der Richter auf das Erscheinen des Angeklagten bestanden, da dieser sich nicht zur Täterschaft geäußert habe.
Auch gegen diesen Bescheid hat der Verteidiger Beschwerde eingelegt und erklärt, nur, falls dem Angeklagten eine Bahnfahrkarte vom Urlaubsort in Griechenland nach Heilbronn von Staats wegen zur Verfügung gestellt werde, könne er erscheinen. Als Erwerbsloser könne er die Fahrt nicht finanzieren. Damit die Verhandlung auch ohne den Angeklagten stattfinden kann, hebt der Richter unter Berücksichtigung der Zeugen die Pflicht des persönlichen Erscheinens des Angeklagten auf.
Der Richter ist auf das Begehren, Fahrtkosten erstattet zu bekommen, nicht eingegangen.
Es sind zwei Zeugen geladen und erschienen: Vom Landratsamt Heilbronn im Dezernat 5 in der Abteilung Sicherheit und Ordnung, speziell Versammlungsrecht der Abteilungsleiter und seine Stellvertreterin.
Zunächst wird Frau Grigore vernommen und schildert die Situation an der Brücke in Bad Wimpfen, überreicht dem Richter Fotos, auf denen der Angeklagte zweifelsfrei zu erkennen ist und verweist außerdem auf die Mediathek des ZDF: https://www.zdf.de/nachrichten/heute-sendungen/videos/castortransport-100.html

Sie erklärt die rechtliche Lage, dass die Demonstration nicht angemeldet gewesen sei und dass den Demonstranten ein Ersatz-Aufstellungsraum zur Verfügung gestellt worden sei.
Die Vernehmung des Abteilungsleiters Hoffmann fällt kurz aus, da keine weiteren Details notwendig erscheinen.
Nach kurzer Beratung erscheint der Richter wieder und verkündet das Urteil. Kai-Sven Vogel wird zu 100 Euro Bußgeld verurteilt und muss die Gerichtskosten übernehmen.

Das Verfahren ist damit aber noch nicht rechtskräftig abgeschlossen…

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